Elfi Hartenstein: Geschichten mit Herbst

10 Illustrationen von Gisala Conrad, 96 S., 10,20 Euro, ISBN 978-3-929517-39-6

Zehn Geschichten aus dem Alltag eines Paares, aus der Perspektive der Frau mit viel Ironie erzählt, nach dem Motto: „Niederlagen sind nur dann Niederlagen, wenn wir vergessen den Kopf oben zu halten".

10,20 €

Inhalt.

Elfi Hartenstein, Studium der Germanistik und Geschichte, 1980 -1989 beim Frauenliteraturverlag ZEICHEN&SPUREN in Bremen, lebt seit 1989 in Regensburg als Übersetzerin, Autorin, Herausgeberin, Ghostwriterin. Von 1995-97 als DaF-Lehrerin an der Universität in Chisinau, 1997-98 in Bukarest.

1981 Förderstipendium für Literatur der Hansestadt Bremen, 1984 Littera-Medaille München, 1985 Teilnahme am Ingeborg Bachmann Wettbewerb in Klagenfurt, 1991 Übersetzerstipendium des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt.

Gisela Conrad,
geboren 1944 in Ottenhöfen / Schwarzwald, Studium u.a. an den Akademien der Bildenden Künste in Karlsruhe und Stuttgart und an der Fachhochschule Aachen. Lebt und arbeitet in Regensburg. 1988 Kulturförderpreis der Stadt Regensburg, 1998 Studienaufenthalt (VCCA) in Virginia (USA). Ausstellungen u.a. in Regensburg,Brixen, Innsbruck, Passau.


BLACK BOX

Die Schwalben fliegen ziemlich tief, sage ich zu Herbst und bekomme natürlich keine Antwort, nicht einmal eine Reaktion, die mir zeigen würde, dass er mich überhaupt gehört hat, aber ich kenne das und habe es mir deshalb längst abgewöhnt Fragen zu stellen, zum Beispiel: findest du nicht auch, dass die Schwalben ziemlich tief fliegen, womit ich Herbst gezwungen hätte, auf die eine oder andere Art mit mir zu kommunizieren, vielleicht gar Blickkontakt aufzunehmen, was ihn vermutlich überstrapaziert und für den Rest des Tages vollkommen in Trance verfallen lassen hätte, es gelingt ihm ohnehin nur in Ausnahmefällen, sich aus seinem eigenen Kopf herauszustehlen und da ich Tag für Tag mit ihm zu tun habe, bin ich natürlich kein Ausnahmefall oder vielleicht gerade deshalb, denn wer weiß schon, dass auch Nicht-Kommunizieren Kommunikation ist und dass Herbst, sobald er sich durch wasauchimmer gestört und verunsichert fühlt, auftaucht und wach wird, er ist ja durchaus lebendig, ganz davon abgesehen, dass sich in einer Partnerschaft immer mit der Zeit alle möglichen Formen von Arbeitsteilung ergeben, und unsere besteht eben darin, dass ich das Sprechen übernommen habe und auch nicht davon ablasse, wenn Herbst sich mutwillig in Schweigen hüllt, denn im Grunde versichert er mir damit ja nur, dass alles in Ordnung ist und er meine Äußerungen akzeptiert, ich brauche mich nicht in Frage gestellt zu fühlen sondern merke, dass wir uns einig sind, wir kennen unsere Defizite und sind beide nicht mehr jung genug, um ständig den Finger in die Wunde legen zu müssen, was keineswegs bedeutet, dass wir zu jenen oft parodierten Witzblattpaaren gehören, die nichts auszeichnet als ihre Sprachlosigkeit, über die ich mich selbst früher oft lustiggemacht habe, erst seit ich Herbst kenne, bin ich vorsichtiger geworden, denn er hat mir gezeigt, dass es zwischen verbaler und nonverbaler Verständigung noch diese Mittellösung gibt, bei der einer das, was er denkt oder beobachtet oder fühlt, in Worte packt, während der andere dazu zustimmend schweigt, zustimmend auf jeden Fall, weil er ja im Widerspruchsfall widersprechen und damit das ganze Chaos des Sich-nicht-verstehen-Könnens heraufbeschwören würde.

Zu behaupten, Herbst spräche grundsätzlich nie, wäre allerdings grundfalsch, er ist seiner Sprache sehr wohl mächtig, doch es ist ihm angenehmer, sie nicht benutzen zu müssen und außerdem weiß er, dass ich mich, sollte ich es auf akustisch wahrnehmbare Kommunikation abgesehen haben, an andere Menschen wende, an meine Freundin Nana zum Beispiel, mit der ich immer noch plaudere und kichere wie vor Urzeiten, wir kannten uns ja lange, bevor Herbst auf der Bildfläche erschien, und manchmal argwöhne ich, er will einfach nicht in Konkurrenz zu ihr treten, doch das heißt nicht, dass er sich nicht auch plötzlich vollkommen verändert und sich wortgewaltig und sprühend vor Witz zu präsentieren vermag, wenn Nana sich bei uns sehen lässt, übrigens macht er das mitunter nicht nur Nana gegenüber und wenn er diese Seite hervorkehrt ist er einer von denen, um die sich alle reißen, was Herbst jedoch nicht besonders behagt, sodass er immer sichtlich erleichtert ist, sobald wir wieder allein sind und er sich im Bewusstsein unserer wortlosen Übereinstimmung den Rückzug hinter die Wände seines Schneckenhauses von neuem gestatten kann, ohne dass es ihn dabei stören würde, wenn ich ihn im Sinne unserer Arbeitsteilung weiterhin mit akustischen Signalen versorge, zumal ihm durchaus daran liegt, dass es auch mir gut geht, nur dass er darüber niemals auch nur ein einziges Wort verlieren würde.
Herbst war so, solange ich ihn kenne, zumindest ist er so geworden, kaum dass er die Anstrengung unternommen hatte, mich kennenzulernen, und ich gestehe, dass es Dinge gibt, die mich mehr beschäftigen als Herbsts Abneigung gegen Verbalisierungen, Nana sieht das genauso, was mich keineswegs verwundert und es tut gut, mit ihr über das, was uns mehr beschäftigt, sprechen zu können, wir beobachten ja dieselben Phänomene an uns, seltsame Erinnerungsblackboxes, zum Beispiel wenn sich einem Menschen, dem wir nach längerem unvermutet begegnen, kein Name mehr zuordnen lässt, es gibt einfach keinen, der passt oder es passen mehrere gleichzeitig, eine peinliche Situation, du sprichst mit jemandem, der freudig auf dich zugegangen ist und weißt nicht mit wem, Alzheimer frage ich Nana später und sie nickt trübe und lacht, was das Problem natürlich noch nicht einmal bagatellisiert geschweige denn löst.

Letzte Woche musste ich nach S., sagt Nana, ich hatte einen ganzen Nachmittag zu tun dort und es war einigermaßen erfreulich, wieder einmal hin zu kommen, immerhin habe ich ja 10 Jahre lang in S. gewohnt, sagt sie, und auf dem Weg zum Bahnhof gehe ich noch schnell in die Buchhandlung, naja die kennst du ja selbst, ich trete also durch die Tür und bevor ich mich auch nur umsehen kann, werde ich begrüßt wie eine alte Bekannte, bin ich ja auch und freue mich darüber und überlege krampfhaft, wie diese nette Dame hinter der Ladenkasse früher geheißen hat, wir plaudern ein wenig und beim Klang unserer Stimmen dreht sich ein anderer Buchladenbesucher, der bisher mit dem Rücken zu uns in die Bücher im Regal vertieft war, um, unsere Blicke treffen sich und ich rufe sofort hallo John und stelle gleichzeitig fest, dass John noch immer so schön ist wie damals, er kommt auch gleich auf mich zu und drückt mir einen Kuss auf die Wange, so lange haben wir uns nicht gesehen, was machst du jetzt fragen wir und erzählen drauflos, tauschen blitzschnell Lebenslaufversatzstücke aus und zwischendurch frage ich wie alt bist du eigentlich jetzt und finde ihn wirklich ungeheuer schön wie er die Schultern hebt und mich anstrahlt, dreiundvierzig schon, sieh mal an und wir lächeln uns an und verabschieden uns fröhlich und John nimmt mich noch einmal kurz in den Arm und wünscht mir Glück auf dem Weg, denn ich muss mich beeilen, der Zug wartet ja nicht, ich hetze die Straße entlang und über den Bahnhofsplatz und bin völlig außer Atem, aber ich schaffe ihn gerade noch, er ruckt im selben Moment an, als ich mich auf einen freien Fensterplatz stürze, schön denke ich, wie schön, dass ich John wiedergesehen habe und er will mir gar nicht aus dem Kopf und während ich aus dem Fenster schaue - sie sieht plötzlich so verloren aus und deshalb hake ich ein und sage, alles klar, tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert und grinse Nana an, aber die schüttelt den Kopf, nicht was du denkst, und schluckt, eher dass ich das Gefühl hatte, irgendetwas von dem, was er mir erzählt hat, korrespondiere nicht mit meinen Erinnerungen, dreiundvierzig hat er gesagt und ich rechne und rechne und wundere mich, dass die Altersdifferenz zwischen uns plötzlich auf drei Jahre zusammengeschrumpft ist, so etwas gibt es doch nicht, oder, und ich komme einfach nicht drauf und habe immer Johns wunderschönes Gesicht vor mir und seine dunklen Locken und die abgewetzte Lederjacke und rekapituliere noch einmal alles, was wir geredet haben und als der Zug in die nächste Station einläuft, weiß ich es endlich, und Nana sieht mich an und gleich wieder weg und vor sich hin und lacht ein wenig verlegen, nun sag bloß, dass dir das nicht auch peinlich wäre.

Ich denke an Herbst und bin mir wieder einmal klar, dass er sich richtig entschieden hat, die Schwalben fliegen ziemlich tief, sage ich zu Nana und sie nickt und holt tief Luft und kramt ein paar Episoden aus der lange zurückliegenden unbeschwerten Zeit in S. mit diesem wunderschönen schwarzlockigen Exemplar namens Martin hervor und wir stecken die Köpfe zusammen und kichern als wären wir immer noch fünfzehn.

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