Diesmal wähl ich!

Ein Beitrag aus dem magazin lichtung 2019/2:  lichtung-Redakteurin Veronika Ertl (18) hat ein leidenschaftliches Plädoyer für Europa verfasst. Auch für Ostbayern ist die Europawahl am 26. Mai entscheidend.

 

Foto von Herbert Pöhnl aus seinem Projekt Setkání - Begegnungen

Winter 2019, ein schlecht besuchter Saal irgendwo in Ostbayern. Wenige Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament werden auch von den bayerischen Parteien Delegierte gewählt, die anschließend die Kandidaten für die Europawahl im Mai aufstellen. Zwischen den überwiegend älteren, gähnenden Herrschaften herrscht ebensolche Leere. Ein Sinnbild für das Interesse an Europapolitik.

Frühling 2017, ein übervoller Rathausplatz in Regensburg. Zumeist junge Menschen versammeln sich und singen euphorisch die Ode an die Freude. Der „Pulse of Europe“ schlägt mittlerweile auch in bayerischen Städten. Angesichts des Brexits und des Erstarkens von EU-feindlichen, nationalistischen Parteien demonstriert die bürgerliche Mitte für ein freies und vereintes Europa. Die Bewegung politisiert damals auch viele Jugendliche und begeistert diese für eine gemeinsame europäische Idee, mich eingeschlossen.

Inzwischen ist es um die Bewegung „Pulse of Europe“ ziemlich leise geworden und die Frage stellt sich, ob wir kurz vor den Europawahlen nicht ein neues Erwachen dieser EU-Euphorie bräuchten.

Die Europäische Union, aus wirtschaftlichen Zusammenschlüssen der 50er Jahre hervorgegangen, ermöglichte Wohlstand und lang­anhaltenden Frieden für viele Menschen. Für all diejenigen, die mit den Freiheiten der EU aufgewachsen sind, ist ein Leben innerhalb geschlossener Nationalstaatsgrenzen kaum mehr vorstellbar. Vom europäischen Gedanken beseelte Kosmopoliten bereisen nach dem Schulabschluss mit dem Interrailticket ohne Hindernisse den ganzen Kontinent – ihre Heimat Europa. Währenddessen ist zuhause in Ostbayern die bayerisch-böhmische Zusammen­arbeit und Freundschaft längst Realität.

Gleichzeitig stößt das Wort „Brüssel“ manchen Stammtischdiskutanten bitter auf. Schnell ist vom „Lobbyistenparadies“ die Rede, vom „Bürokratiemonster“ und von undemokratischen Verhältnissen. Tatsächlich nehmen dem gemeinnützigen Verein LobbyControl zufolge schätzungsweise 25.000 Lobbyisten mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro in der sogenannten Lobbyhauptstadt Einfluss auf die EU-Institutionen, 70 Prozent von ihnen für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Im krassen Gegensatz dazu beschäftigt der Deutsche Gewerkschaftsbund momentan zwei Interessenvertreter in Brüssel. Und tatsächlich hat die EU nicht nur Unternehmen, sondern auch Vereinen mit der Datenschutzgrundverordnung einen gewaltigen Berg Bürokratie aufgelastet. Die zum Schutz personenbezogener Daten gedachte DSGVO offenbarte hunderte Datenpannen, bei denen persönliche Informationen in fremde Hände gelangt sind. Und tatsächlich besitzt das Europäische Parlament im Gegensatz zum Bundestag kein Initiativrecht und benötigt für alle Gesetzgebungsakte die Zustimmung des Ministerrats.

Wie kann man in Anbetracht dieses beträchtlichen Verbesserungspotentials Menschen für Europa begeistern? Eine der vielen noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten besteht darin, Individuum und Parlament miteinander in Kontakt zu bringen. Jeder Abgeordnete des Europaparlaments darf jährlich 110 Besucher auf Kosten der EU dorthin einladen. Bei voraussichtlich über 700 Abgeordneten in der nächsten Legislaturperiode und damit über 77.000 potentiellen Besuchern, aber insgesamt 508 Millionen EU-Einwohnern kann man nur hoffen, dass die Glücklichen ihre frisch eingeflößte Begeisterung nicht für sich behalten, sondern die frohe Botschaft weitertragen.

Anfang Februar 2019, auf einer solchen Besucherfahrt im Reisebus Richtung Brüssel. Die Gespräche chan­gie­ren zwischen EU-Reform und EU-Abriss. Keine Kaffefahrt, eine Bildungsfahrt soll es werden. Abends pulsiert das Leben in der Nähe des Grande Place, junge Erwachsene sitzen in den Bars und trinken Bier. Reden englisch, französisch, niederländisch und lachen viel. Die deutsche Reisegruppe redet bayerisch und schaut etwas verloren, aber neugierig in der Gegend herum. Die Fritten sind fettig, die Waffeln extrem süß, aber beides ex­trem lecker. Neben hässlichen Souvenirs werden die Teilnehmer vor allem gute Argumente für mehr Europa mit nach Hause in den Bayerischen Wald nehmen, werden hoffentlich zu Multiplikatoren der europäischen Idee. Sie erhalten die Gelegenheit, sowohl mit Abgeordneten als auch mit Lobbyisten ins Gespräch zu kommen und die Notwendigkeit von transparenten Interessenvertretungen zu verstehen, aber vor allem die Chance, zu begreifen, dass die EU gar nicht so undemokratisch und fern von der Lebensrealität der Ostbayern ist.

Durch die EU-Agrarpolitik fließen jedes Jahr fast 60 Milliarden Euro in die Landwirtschaft, etwa 114 Euro pro EU-Bürger. Das Europaparlament präsentiert sich (nicht nur) an dieser Stelle unerwartet transparent und veröffentlicht jährlich genaue Daten darüber, wie viel Geld welche Betriebe erhalten. Laut Spiegel Online erhielt 2017 die GEO Gurken­erzeugerorganisation Bayern GmbH die höchste Einzelsumme im Landkreis Deggendorf mit 413.082,34 Euro. Spitzenreiter in Regen waren die drei Landwirte Alois, Josef und Alois Josef mit jeweils um die 300.000 Euro. Von einer außerordentlich hohen Basisprämie, also pauschal pro landwirtschaftlich genutztem Hektar Land ausgeschütteten finanziellen Mitteln, profitiert der Gäuboden. Der Bayerische Wald mit seiner kleinbäuerlichen Landwirtschaft, kleineren Flächen und deswegen vielen Empfängern profitiert wiederum sehr stark von Zahlungen aus dem Entwicklungsfonds, dem ELER-Topf. Das oft mit Zuschreibungen zwischen überflüssig und übermächtig bedachte Konstrukt EU setzt sich hier also ganz konkret zum Ziel, die Lebensqualität im ländlichen Raum, auch im Bayerischen Wald, zu verbessern.

EU-Politik betrifft auch soziale Aspekte, indem sie verbindliche Mindeststandards festlegt. Errungenschaften wie die Gleichstellung der Geschlechter und europaweiter Arbeitsschutz werden auf europäischer Ebene sichergestellt. Die europäische Entsenderichtlinie verhindert auch im bayerisch-tschechischen Grenzraum Lohndumping und Wettbewerbsverzerrung, indem sie festlegt, dass auch ausländischen Arbeitskräften der deutsche Mindestlohn gezahlt werden muss.

Im Bayerischen Landtag führt die Opposition ein tristes Dasein, auch im Deutschen Bundestag verfügt sie kaum über Gestaltungsmöglichkeiten. Die Fronten zwischen Regierungskoalition und Gegenseite sind verhärtet, Gesetzesinitiativen der Opposition werden konsequent blockiert. Im Europäischen Parlament dagegen gibt es zwar mit der EVP auch eine konservative stärkste Fraktion, jedoch werden Mehrheiten immer wieder neu organisiert, an Entscheidungen werden möglichst viele Akteure – auch kleine Fraktionen – beteiligt, welche immer wieder kleinere Erfolge vorweisen können. Europäische Politiker nennen diese konsensorientierte Form des Parlamentarismus selbstbewusst „the European way“.

Die EU, wie wir sie kennen, ist in Gefahr. Eben jene Kompromissbereitschaft und eine unzureichende europäische Öffentlichkeit lassen die EU in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Einheitsbrei verschwimmen, der noch dazu in die nationale Souveränität einzugreifen scheint. Nationalistische Parteien können ihre Stimmungsmache gegen Globalisierung und Establishment auf die ohnehin durch Kritik und Vorbehalte vorbelastete EU projizieren und bei Europawahlen teilweise sogar höhere Ergebnisse erreichen als bei nationalen Wahlen. Auch die AfD Straubing-Regen fordert „weniger EU, mehr Deutschland“ und teilt die Einschätzung Peter Böhringers, eines Anhängers von Verschwörungstheorien, über Abgeordnete als „zutiefst EUlitäre im Brüsseler Raumschiff“.

In ihrer aktuellen Verfassung bietet die EU also viele Angriffspunkte und Steilvorlagen für ihre Gegner, darunter auch Fraktionen des Europaparlaments wie die „Europa der Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD). Zahlreiche Initiativen der letzten Jahre zeigen derweil, was die EU solchen Angriffen entgegensetzen könnte. Die Konzepte stammen von Privatpersonen, Wissenschaftlern, Gewerkschaften und anderen Organisationen und nennen sich „Europa neu begründen“ (2012), „Restart Europe Now“ (2016), „European New Deal“ von DiEM25. Gefordert wird u.a. das Recht auf lebensnotwendige Güter im Heimatland für alle EU-Bürger, eine funktionierende Finanztransaktionssteuer oder ein Reformpaket für die Europäische Währungsunion. So sehr sich die Vorschläge unterscheiden, ist ihnen doch die Perspektive für ein anderes und sozialeres Europa gemein. Die EU rühmt sich zwar mit dem Wohlstand, den sie gebracht hat, nichtsdestotrotz ist ein Viertel der Menschen in Europa bis heute arm oder armutsgefährdet. Es gilt, nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern auch eine Sozialunion zu werden. Die bereits vorliegenden Pläne scheinen jedoch ohne parlamentarischen Rückhalt kaum umsetzbar.

Deswegen, um es mit den Worten der diesjährigen pan-europäischen Basis­kampagne zu sagen: Diesmal wähl ich (thistimeimvoting.eu)! Es ist unsere einfachste Möglichkeit, Europapolitik, die uns jeden Tag auch in Ostbayern beeinflusst, selbst positiv zu beeinflussen. Für die wichtigste Botschaft reicht ein einziger Satz: Informiert euch weiter und geht am 26. Mai wählen! Es ist notwendig und es lohnt sich. In der Europahymne, der Ode an die Freude, heißt es: „Deine Zauber binden wieder, was der Mode Schwerd getheilt.“

Wir dürfen uns aber nicht nur auf irgendwelche Zauber verlassen. Europäische Zusammenarbeit bedeutet Arbeit, vor allem Bildungsarbeit und Überzeugungsarbeit, aber auch Verbesserungen an der europäischen Demokratie. Die österreichische Band Bilderbuch hat eine moderne Europahymne komponiert: „Ein Leben ohne Grenzen // Eine Freedom zu verschenken“ singt Sänger Maurice im Lied „Europa 22“. Auf der dazugehörigen Internetseite bilderbucheuropa.love kann man seinen eigenen europäischen Pass erstellen und wenigstens fiktiv schon Bürger einer Republik Europa sein.

Ein Beitrag von Veronika Ertl aus dem magazin lichtung 2019/2.

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