2. Preis: Miou Sascha Hilgenböcker

Mit dem 2. Preis beim Kurzgeschichtenwettbewerb "Mehr Licht!" zum 30-jährigen Jubiläum der lichtung verlag GmbH im Jahr 2020 wurde der Text "Nebel steigt auf" von Miou Sascha Hilgenböcker ausgezeichnet.

Eine Tanne, die gefällt werden soll, ist bei Miou Hilgenböcker der Mittelpunkt dreier Häuser. Die Schicksale der Bewohner - eine alte Frau, deren schwangere Tochter und ihr Freund sowie ein queeres Pärchen - sind nicht nur durch den Baum miteinander verknüpft. In ruhiger, poetischer Sprache erzählt Miou Hilgenböcker eine Geschichte im Spannungsfeld zwischen Tradition und modernem Leben.

Miou Sascha Hilgenböcker, geboren 1990, studierte Romanische Philologie, Politikwissenschaft und Deutsch als Fremdsprache in Münster. Gerade ist Miou Sascha Hilgenböcker nach Frankfurt am Main umgezogen, zuvor lebte Hilgenböcker in Kollnburg im Bayerischen Wald und widmet sich dort dem Schreiben, Übersetzen und Unterrichten.

Nebel steigt auf

von Miou Sascha Hilgenböcker

Ein luftiges Raunen ging durch den Aufichtenwald. Die Tanne vor dem Küchenfenster neigte ihr Haupt und sendete den rauschenden Verwandten in naher Ferne einen ehrerbietigen Gruß. Geistesabwesend nickte Lore ihr zu, dabei wusste sie doch, dass sie als Mensch das akribische Zeremoniell der Nadelbäume nicht zu stören hatte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die dumpfe Benommenheit abzuschütteln.

Etwas lag in der Luft, da gab es keinen Zweifel. Jahr für Jahr war ihr um diese Zeit zuverlässig der Herbst unter die Haut gekrochen, mitsamt seinem nebeligem Atem, seiner knirschenden Starrheit, seiner mit Raureif überzogenen Morgenkälte. Jahr für Jahr hatte sie es den Fichten gleich getan, hatte sich tief in die Schwaden zurückgezogen, um ungestört vom nächsten Frühling zu träumen. Und was spürte sie nun?

„Große Veränderungen“, stellte sie sachlich fest, als hätte sie einen prüfenden Blick auf die handgemachte, in schweres Eichenholz gefasste Wetterstation geworfen, ein Erbstück ihres Vaters.

Zwei kleine, spitze Ohren richteten sich auf und Hasel musterte sie erwartungsvoll.

„Schon gut, wir gehen ja gleich los“, brummte Lore, kraulte eine kleines Köpfchen und kramte in den vollgestopften Schubladen nach ihren Handschuhen.

Mit bedächtigen Schritten drehten sie ihre tägliche Runde durchs Dorf. Auf dem Rückweg sahen sie schon von weitem Karins Verlobten, der sich mit einem Maßband am Stamm der großen Tanne zu schaffen machte. Milo und Adil aus dem Nachbarhaus hatten ihn ebenfalls bemerkt. Zwischen Haustür und Garage hatten sie innegehalten und verfolgten verwundert sein umständliches Treiben.

„Ich habe schon mit der Naturschutzbehörde telefoniert“, berichtete er den beiden gerade begeistert. „Der Baum kann weg, dann haben wir hier endlich mehr Licht!“

„Und außerdem könnt ihr dann direkt in unser Schlafzimmer gucken“, bemerkte Milo spitz.

„Ihre Unterschrift bräuchte ich allerdings noch, das Ungetüm steht ja direkt auf der Grundstücksgrenze. Um den Rest kümmere ich mich“, plapperte der Verlobte unbekümmert weiter.

„Was sagt denn Karin dazu?“, erkundigte sich Adil.

„Ach, ihr kennt sie ja, die Karin. Möchte niemandem Umstände machen, aber natürlich will auch sie –“

„Hast du das gehört, Lore!“, Milo hatte seine Nachbarin bemerkt und winkte ihr in überschwänglicher Ironie zu. „Unser neuer Nachbar will den Baum fällen! Mehr Licht für alle!“

Die drei Parteien standen sich unschlüssig gegenüber, ihre jeweiligen Häuser, vor Jahrhunderten in einem windschiefen Dreieck errichtet, spähten vorsichtig hinter ihren Rücken hervor. In der Mitte ragte die Tanne auf, ließ schwermütig die ausladenden Äste hängen und hüllte sich in dunkelgrünes Schweigen. Hasel trippelte auf sie zu, schnupperte aufmunternd an ihrem Stamm und schielte hinauf zu den kleinen Tannenmeisen. Kopfüber hingen sie in den Zweigen und schickten ihr surrendes Zwitschern durch die frostige Herbstluft.

 

Es klingelte. Karin wartete in der abendlichen Dämmerung und stemmte wütende Fäuste in die Hüfte.

„Was auch immer du gehört hast, ich bin nicht dafür, die Tanne zu fällen!“, polterte sie in den Flur, während Hasel um ihre Beine hüpfte. Als sie sich auf der Eckbank in der Küche niedersinken ließ, wirkte sie mit einem Mal fürchterlich erschöpft.

Ein Bad in den Bäumen, ein Ausblick wie auf dem Grund eines Weihers, trübste Natürlichkeit in all ihrer Pracht. Das waren die Worte ihres Großvaters gewesen, als er jenes Zimmer im Erdgeschoss des Nachbarhauses zum ersten Mal betreten hatte. Zwei Minuten später hatte er den Kaufvertrag unterschrieben, zwanzig Jahre später hatte er ihr das Haus geschenkt.

Vergeblich hatte sie ihren Verlobten bereits auf all die anderen Fenster zur Nord-, Süd- und Westseite hingewiesen, die eine ungetrübte Aussicht auf die Berge boten.

„Ausgerechnet der Ostblick!“, hatte er ein ums andere Mal geklagt. „Es hilft nichts, der Baum muss weg!“.

Karin seufzte und kraulte Hasel geistesabwesend hinter den Ohren.

„Ich will mich ja nicht einmischen, aber –“, tastete sich Lore vor.

„Was denn, Mama?“

„Deiner Verlobter und du, ist das denn wirklich ... ?“

„Nein, Mama, er ist nicht die Liebe meines Lebens und ich bin auch nicht seine. Wir sind nicht das neue Traumpaar des Dorfes, wenn du das wissen willst.“

„Aber warum ... ?“

Karin stützte den Kopf in die Hände und seufzte erneut. „Ich bin schwanger, Mama. Darum. Und mein Kind soll ja nicht ohne Vater aufwachsen, hat Opa das nicht immer gepredigt?“

Es folgten eine tränenreiche Umarmung und die schniefende Suche nach Lores Spitzentaschentüchern.

„Ach, Opas Geschwätz!“, brachte Lore schließlich hervor. „Das waren doch ganz andere Zeiten!“

„Es war Opas letzter Wille“, antwortete Karin leise. „Das Letzte, was er mir gesagt hat. Dass ich es einmal einfacher haben soll als du.“

„So ein alter Sturkopf!“, Lore warf der Wetterstation einen bösen Blick zu, als hielte sich der Geist ihres verstorbenen Vaters zwischen den Skalen versteckt. „Ich hatte alles, was ich mir wünschen konnte! Nur das Gerede der Leute, darauf hätte ich verzichten können. Aber heutzutage ist das doch nicht mehr –“

„Mama“, unterbrach Karin sie. „Ich habe es Opa versprochen und ich habe mich entschieden. Ich komme schon klar, okay?“

Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, mit dem sie die aufkeimenden Sorgen entschlossen versiegelte. Erst nach einer schlaflosen Nacht voll erbitterter Kämpfe mit dem schlechten Gewissen, wagte Lore schließlich den unausweichlichen Siegelbruch.

 

Erbarmungslos jagte der Herbstwind Wolkenfetzen über den Himmel. Unten auf der Straße stemmten sich Adil und Milo mit wehenden Mänteln gegen die Böen.

Lore beobachtete, wie die beiden vor Karins Haustür warteten, wie Karin öffnete, wie die Worte im Wind flatterten. Sie empfing den verletzten, zornigen Blick, den Karin in ihre Richtung schleuderte. Das hatte sie verdient. Sie hätte sich gewünscht, es besser zu machen. Aber es blieb ihr so wenig Zeit.

Erleichtert sah sie, wie Karin die beiden schließlich ins Haus bat. Erst jetzt konnte sich Lore auf ihr Bett sinken lassen. Hasel rollte sich an ihrer Seite zusammen.

Im Sommer hatten Milo und Adil ihr erzählt, dass sie die Hoffnung auf Adoption endgültig aufgegeben hatten.

„Für queere Paare ist es ja schon schwierig genug“, hatte Milo bitter gesagt. „Aber sobald sie meinen Rollstuhl sehen, ist unsere Chance gleich Null.“

Gestern hatte Lore die beiden zum Tee eingeladen.

„Mein Enkelkind kann doch nicht ohne unsere Tanne aufwachsen, erst recht nicht im Schatten einer unglücklichen Ehe. Karin sagt, sie braucht einen Papa für ihr Kind und direkt neben ihr wohnen die beiden wundervollsten Väter! Bitte versprecht mir, dass ihr mit ihr redet.“

 

„,Ich muss hineingehen, denn der Nebel steigt auf‘, Emily Dickinson, 1886“, murmelte Lore verträumt und ließ das schwere Buch sinken. „Und was waren die letzten Worte des großen Goethe, Hasel?“

Hasel winselte leise, hatte längst verstanden, das etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Die Haustür war nur angelehnt. Bald würden Adil, Milo oder Karin besorgt um die Ecke schauen. Sollte es das erste Mal seit fast zwei Jahrzehnten sein, dass Lore und Hasel ihren allmorgendlichen Spaziergang verschlafen hatten?

„Um ehrlich zu sein: Ich weiß es auch nicht“, kicherte Lore zur Antwort und fühlte sich wolkenleicht.

„Und was sind meine großen letzten Worte?“

Sie schloss die Augen.

Die Tanne vor dem Küchenfenster neigte ihr Haupt zu einem stillen Abschiedsgruß.

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